Noch fehlte im Kapellchen ein größeres Marienbild. Daß alle Beteiligten ein solches wünschten, ist selbstverständlich. Die Überlegungen in dieser Hinsicht und die Ereignisse schildert wiederum der damalige Provinzial Pater Kolb.
Pater Kentenich selbst erzählte später einmal in plauderndem Ton über die Geschichte des MTA-Bildes im Heiligtum, und zwar am 8. Januar 1963 in Milwaukee.
Einen präzisen Bericht über die Ankunft des Bildes in Schönstatt hat Pater Heinrich Schulte hinterlegt. Er gibt als Ankunftsdatum den Karfreitag an, der im Jahre 1915 auf den 2. April fiel.
Im Brief Pater Kentenichs an Josef Fischer vom 30. April 1915 klingt es so, wie wenn das Bild nicht schon ungefähr seit Ostern hängen würde, sondern eben erst angebracht worden wäre:
„Auch unser Kapellchen nimmt eine immer würdigere Gestalt an. Gerade vor Beginn des Mai haben wir ein schönes Altarbild von Herrn Huggle erhalten (Mutter mit Kind). Hier im Kapellchen wollen wir den ganz besonderen Segen Mariens herabflehen auf alle treuen Sodalen. Das soll eine von den Aufgaben sein, die der diesjährige Mai uns stellt.“
In „Unter dem Schutze Mariens“ wird S. 334 ein Briefausschnitt von Pater Kentenich vom 12. Mai 1915 an Josef Fischer zitiert.
„Seit der kurzen Zeit, seit der Sie fort sind, hat unser Kapellchen ein ganz anderes Aussehen bekommen. St. Michael mußte einem schönen Muttergottesbild weichen (Mutter mit dem Kind ein Geschenk des Rev. D. Huggle). Er hat dafür ein Postament bekommen auf der Evangelienseite vorn im Chörchen. Dort thront er nun als der Wächter des Sakramentes. Der große Chorbogen trägt eine prächtige Perlenstickerei: Ave Maria. Br. Franz (Anmerkung: Es ist nicht klar, welcher Bruder Franz gemeint ist, denn zu dieser Zeit führten unter den 26 Brüdern des Hauses vier den Vornamen Franz.) hat eineinhalb Jahre in seinen Freizeiten daran gearbeitet. Der Schreiner, bei dem wir es einrahmen ließen (für 17,50 Mk.) schätzte seinen Wert auf 300 400 Mark. Das mag etwas übertrieben sein. Wir aber freuen uns über unser Kapellchen und fühlen uns dort heimischer als je. Hier sollten auch Sie zu Hause sein. Von dem Gnadenkapital (Hier taucht das Wort ‚Gnadenkapital’ zum ersten Mal auf.), das wir im Mai hier zusammengetragen, bekommen Sie auch selbstverständlich eine große Anzahl Prozent Zinsen, vorausgesetzt, daß Sie etwas zum Kapital beitragen in Ihrer Weise. Sie verstehen mich …“
Für einen frühen Termin der Anbringung des neuen Marienbildes im Kongregationskapellchen spricht das nächstfolgende Zeugnis, das in den Zusammenhang mit der Frage nach dem Werden des Titels der Gottesmutter gehört.
Als das Bild aus Freiburg am 2. April 1915 vom Bahnhof Vallendar abgeholt und aus der Kiste ausgepackt wurde, brachte es von seinem Maler Crosio her einen Titel mit. Das Bild war gemalt und bezeichnet zu Ehren Mariens als „refugium peccatorum Zuflucht der Sünder“. Wer vor diesem Bilde betet, der sollte Maria unter diesem Titel anrufen und so sein Vertrauen bekunden.
Es ist geschichtlich nicht mehr zu klären, warum man sich nun in Schönstatt angeregt, berechtigt oder verpflichtet fühlte, den Titel des Bildes zu ändern bzw. ihm einen neuen zu geben. Möglich wäre es natürlich, daß bei seiner Ankunft der durch den Maler verliehene Titel gar nicht bekannt war; daß er vielleicht erst später und nachträglich bekannt geworden ist.
Aus pädagogischen Gründen könnte Pater Kentenich der Titel „Zuflucht der Sünder“ auch unerwünscht gewesen sein, da es ihm auf Idealpädagogik ankam; deshalb übernahm er die in Ingolstadt geübte Festlegung nicht, daß, wer sich einer schweren Sünde bewußt sei, insgeheim kein Mitglied mehr der MC sein könne. Doch ist nicht bekannt, ob bei der Suche nach einem Titel für das Bild diese Überlegung eine Rolle spielte.
Was auch immer die Gründe dafür waren: Sicher ist, daß das Bild einen anderen Titel erhielt; der Vorgang ist aber erstaunlich.
Zunächst hätte es wohl nahe gelegen, daß Pater Kentenich, wenn er schon einen anderen Titel wünschte oder geben wollte, seine bisherige Praxis beibehalten und weiterführen würde. Im Gründungsvortrag hatte er die Gottesmutter betitelt mit: „Unsere Liebe Frau“. Genau so schrieb er auch in Briefen an Josef Fischer, zum Beispiel noch am 30.4.1915: „Und Sie was tun Sie im Ehrenmonat Unserer Lieben Frau?“ Sicher kann man folgendes sagen: Von Anfang an war das Kloster Schönstatt und seine Kirche der Gottesmutter geweiht; es hieß „Kloster Unserer Lieben Frauen“. Die Gottesmutter wurde verehrt als „Unsere Liebe Frau von Schönstatt“. Es dürfte also dem Pater Spiritual leicht über die Lippen gekommen sein, von „Unserer Lieben Frau“ zu sprechen; denn das war üblich. Und vermutlich war es so, daß er von dem Augenblick an, als er das Michaelskapellchen als eine besondere Stätte Mariens entdeckte und zu einem besonderen Gnaden und Wallfahrtsort machen wollte, auch die innere Notwendigkeit oder wenigstens Sinnhaftigkeit in sich verspürte, die Besonderheit des Kapellchens zu betonen. Deswegen legte sich wohl auch im April 1915 die Suche nach einem eigenständigen Titel für das neue Bild nahe.
Theoretisch hätte auch noch eine Anzahl anderer Titel zur Auswahl gestanden. Neben den Titeln: „Unsere Liebe Frau von Schönstatt“ und „Refugium peccatorum Zuflucht der Sünder“ hätten Lieblingstitel Pallottis nahegelegen, zum Beispiel „Königin der Apostel“ oder „Mater divini amoris Mutter der göttlichen Liebe“; gelegentlich gebrauchte Pater Kentenich selbst mit spürbarer Wärme einen anderen Titel der Lauretanischen Litanei: „Mater amabilis liebenswürdige Mutter“. Doch nichts von all dem geschah.
Die Entscheidung, den Titel „mater ter admirabilis“ zu wählen, fiel infolge einer sensiblen Beobachtung der seelischen Entwicklung der Jungen, nicht infolge theoretischer oder dogmatischer Erwägungen. Der Vorgang ist ein anschauliches Beispiel für jene Gesetzmäßigkeit des Vorsehungsglaubens, die Pater Kentenich später das „Gesetz der schöpferischen Resultante“ nannte. In den Tagen nämlich, als Anfang April 1915 das Bild ankam, lag die Beschäftigung mit der Parallele Ingolstadt-Schönstatt (oder Schönstatt-Ingolstadt beide Formulierungen wurden gebraucht!) so sehr in der Luft, daß der dort bevorzugte Titel ebenfalls im Gespräch war und sich zur Auswahl anbot. Der Ingolstädter Titel weckte bei den Jungen ein Echo.
Das älteste Zeugnis für den Titel, unter dem die Gottesmutter auf ihrem Bilde im Kongregationskapellchen angerufen wird, haben wir in einem Briefauszug von einem nicht genannten Schreiber, abgedruckt auf S. 69 im Heft Nr. 9/10 der MTA, 4. Jahrg. 30.7.1919.
Der gemeinte Brief ist datiert vom 21. April 1915. Er berichtet vom Apostolat während der Ferien. Am Weißen Sonntag waren die Schüler noch in Schönstatt (Aufnahmeweihe von Kandidaten der Marianischen Kongregation mit Josef Engling.). Ob sie anschließend wegen der Lebensmittelknappheit noch zwei Wochen oder länger in Heimaturlaub fahren mußten, ist nicht klar. Die Hauschronik vermerkt für dieses Jahr keine Ferien. Ein Jahr später, 1916, wird das so geschehen. Jedenfalls taucht in diesem Ferienbrief bereits der Titel Mta und „dreimalwunderbare“ (ein Wort!) Mutter auf.
Ende des Jahres 1914 bekam Pater Kentenich das Buch eines Jesuiten Franz Hattler in die Hände: ‚Der ehrwürdige P. Jakob Rem aus der Gesellschaft Jesu und seine Marienconferenz.’ (Nationale Verlagsanstalt Regensburg 1896.) Darin las er von der Gründung des Colloquium Marianum durch Pater Rem im Jahre 1594 in Ingolstadt und vom dortigen Gnadenbild und Titel der Mater ter admirabilis. Pater Kentenich nahm diese Lektüre zum Anlaß, von einer Parallele Ingolstadt-Schönstatt zu sprechen. Das Notwendige darüber ist nachzulesen in Kastner, Unter dem Schutze Mariens.
Wann genau, also an welchem Tag in welchem Monat Pater Kentenich das besagte Buch in die Hände bekam, ist nicht sicher. Zum ersten Mal findet es Erwähnung in dem als dritter Vortrag nach der Gründungsurkunde überlieferten Vortrag, abgedruckt unter dem Titel „3. Das Partikularexamen“ in „Unter dem Schutze Mariens“. Dieser Vortrag nimmt ausführlich Bezug auf die Festfeier am 8. Dezember 1914; er dürfte also nicht lange danach gehalten worden sein.
Wie dem auch sei, auf alle Fälle war bis zum April 1915 Zeit genug dafür, daß der Titel der Ingolstädter Gottesmutter geläufig und dann auch für die Gottesmutter in Schönstatt für passend angesehen wurde.
Pater Kentenich bevorzugte dann und entschied sich zwar für den Titel der Ingolstädter Madonna, doch waren die Gründe dafür nicht in der Ingolstädter Tradition zu suchen, sondern in der Treffsicherheit, mit welcher der Titel (im Sinne einer schöpferischen Resultante) die eigenen Beobachtungen und Erfahrungen mit der Entwicklung in Schönstatt ausdrückte. Das zeigt sich in dem Brief vom 26. Juni 1915, in welchem er eventuelle Schwankungen in der Wahl eines Titels für unsere Liebe Frau von Schönstatt zum Abschluß brachte und seine Begründung darlegt.
In einem Brief an Josef Fischer ist dies nachzulesen.
Es dürfte wohl für immer ein nicht aufzuhellendes Geheimnis des Spirituals Pater Kentenich bleiben, an welchen fünf oder sechs Studenten er diese Beobachtungen und Erfahrungen machen konnte. Man mag an die innere Wandlung eines Max Brunner denken, denn diese ist in der schriftlichen Biographie dokumentiert. Ansonsten jedoch scheinen die nachweisbaren Fakten kaum mehr zu belegen sein.